Studie zur Kindheit: Ab wann Kinder Sarkasmus und Gefühle erkennen

Die Fähigkeit, andere zu verstehen, gehört mit zu den wichtigsten sozialen Fähigkeiten des Menschen. Die bislang größte Studie dazu liefert neue Erkenntnisse.
Vechta – Wer die Reaktionen seines Gegenübers nicht verstehen kann, hat ein großes Problem. Und das ein Leben lang. Forscher gehen daher schon seit Jahrzehnten der Frage nach, wann sich die Fertigkeiten für intuitives Verstehen von Gefühlslagen beim Gegenüber ausbildet. Bislang war das Fazit: Das passiert hauptsächlich in der Vorschulzeit. Jetzt wird diese Annahme ergänzt: Komplexere Fähigkeiten im Verständnis anderer entwickeln sich erst im Laufe der Grundschulzeit, wie eine Studie von Christopher Osterhaus, Professor für Entwicklungspsychologie im Handlungsfeld Schule in Vechta und Susanne Koerber, Professorin für Frühe Bildung der Pädagogischen Hochschule Freiburg, zeigt. Veröffentlicht wurden die Ergebnisse in der Zeitschrift „Child Development“.
Studie zur Kindheit: Ab wann Kinder Sarkasmus und Gefühle erkennen
„Kinder sind intuitive Psychologinnen und Psychologen. Sie entwickeln früh ein grundlegendes Verständnis davon, wie Menschen denken, fühlen oder handeln“, schreiben die Forscher. Die beiden Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen haben mit ihrer Studie nachgewiesen, dass Kinder rund um das erste Schuljahr verstehen, dass es zwischen Menschen zu Missverständnissen kommen kann. Diese Einsicht sei eine wesentliche Grundlage für viele weitere Entwicklungen in der Fähigkeit, andere zu verstehen.
Zu den komplexen Fähigkeiten, die sich im Verlauf der Grundschule entwickeln, gehört den WissenschaftlerInnen zufolge Sarkasmus zu erkennen, die Gefühle anderer an den Augen abzulesen, sich in die Gedankenwelt eines anderen zu versetzen und einen Fauxpas zu erkennen. All dies seien wichtige sozial-kognitive Fähigkeiten, die als „intuitive Psychologie“ beschrieben werden.
Studie zur Kindheit: Messung der Kompetenzentwicklung bei Kindern
Die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen der Universität Vechta und der Pädagogischen Hochschule Freiburg sind damit die ersten, die die sozial-kognitiven Fähigkeiten mit dieser speziellen Untersuchungsmethode erforscht haben. Die fünfjährige Längsschnittuntersuchung wurde mit insgesamt 161 Kindergarten- und Grundschulkindern durchgeführt.
„Wir haben die Kinder zum ersten Mal im Kindergarten interviewt und haben sie dann bis ans Ende der Grundschulzeit begleitet“, erläutert Osterhaus. „Dabei haben wir jährlich ihre Kompetenzentwicklung gemessen. Auf diese Weise lässt sich sehr genau verfolgen, wann Entwicklungsschritte auftreten und wovon diese abhängen.“
Studie zur Kindheit: Intelligenz entscheidet über Entwicklung
Die Schüler und Schülerinnen bekamen von den Wissenschaftlern verschiedene Test-Aufgaben. Darunter zum Beispiel die Geschichte über ein Mädchen, dass eine Überraschungsparty versehentlich ausplaudert. „Knapp 90 Prozent der Neunjährigen erkennen, dass solche Situationen nicht auf Absicht beruhen. Diese Fähigkeit scheint auf einen relativ simplen Prozess zurückzugehen, bei dem Kinder das, was in ihrem sozialen Umfeld passiert, mehr oder minder automatisch wahrnehmen und bewerten. Und je mehr Erfahrung sie hierin haben, desto besser scheint diese Bewertung zu funktionieren“, erklärt Osterhaus.
Andere Fähigkeiten scheinen sich aber nicht in erster Linie durch ein Mehr an Erfahrung zu entwickeln. So hängt das Verständnis davon, dass zwei Leute dieselbe Information anders interpretieren, nicht mit dem Alter zusammen, mit dem einzelne Kinder den grundlegenden Meilenstein im Verständnis anderer erlangten. Stattdessen hing diese Fähigkeit mit der Intelligenz der Kinder zusammen: Zum Ende der Grundschule schnitten intelligentere SchülerInnen bei den entsprechenden Tests besser ab.
Studie zur Kindheit: Psychologische Ausbildung zu Hause und in der Schule wichtig
Das lässt den ForscherInnen zufolge vermuten, dass sich dieses Verständnis nicht allein mit der Erfahrung entwickelt, wie etwa das Erkennen einer sozialen Regelübertretung. „Sondern dass Kinder sich explizit hiermit auseinandersetzen müssen. Sie müssen also lernen, die komplexe Funktionsweise unseres Denkens zu verstehen und zudem eine Theorie darüber entwickeln, nach welchen Mustern komplexe soziale Interaktionen ablaufen“, schreiben die Forscher.
Zu Beginn der Grundschulzeit sind grundlegende Fähigkeiten vorhanden, vieles aber entwickelt sich noch. Lehrkräfte und Eltern müssen oft Geduld haben, da die Kinder längst nicht alles verstehen. Christopher Osterhaus erklärt: „Einige Aspekte entwickeln sich aller Wahrscheinlichkeit nach ohne großes Zutun, allein durch Erfahrung. Entscheidend ist also, dass Kinder diese Erfahrung machen können – und das ist ja auch durch Corona aktuell oft nur begrenzt der Fall. Bei anderen Aspekten sollte man hingegen explizit fördern.“
So können Erwachsene Kinder beim Lernprozess unterstützen:
- Viel Geduld: Manche Dinge lernen die Kinder von allein, bei anderen benötigen sie Unterstützung bei der Erfahrung der Emotionen
- Erwachsene sollten Gefühlslagen und Situationen mit den Kindern durchsprechen, beispielsweise: Ich bin gerade traurig, wütend, ärgerlich, gestresst, weil...
- Den Kindern sollten auch die entsprechenden Bezeichnungen und Wörter für diese Gefühle lernen
- Lernmedien wie Bilderbücher thematisieren Gefühle und „Gefühle erkennen“, sie können den Prozess gut begleiten
Für LehrerInnen und Eltern ist es nach Angaben der ForscherInnen deshalb wichtig, mit Kindern entsprechende Situationen durchzusprechen, ihnen zu erklären, warum die Beteiligten Bestimmtes denken und es an die Erfahrungswelt der Kinder rückzukoppeln. „Auch sollten wir Kindern die passenden Wörter beibringen“, sagt Christopher Osterhaus. „Wenn ein Grundschulkind an der Augenpartie einer Person nicht ablesen kann, dass diese Person durchsetzungsfähig ist, liegt dies wahrscheinlich daran, dass es keinen Begriff von diesem Zustand hat.“
Die Persönlichkeitsentwicklung ist ein Lernziel des Schulbesuches. Und gerade bei Konflikten ist es den ForscherInnen zufolge wichtig, dass Kinder über die nötigen Werkzeuge verfügen, um sich in andere hineinzuversetzen und Konflikte so effektiv zu lösen. „Es gibt gute Trainingsprogramme, die man leicht in der Grundschule implementieren könnte. Gerade jetzt im Verlauf der Corona-Pandemie wäre dies vielleicht ein wertvoller Ansatz“, sagt Osterhaus. Warum Kinder übrigens die größten Verlierer der Corona-Krise sind, lesen sie hier.* *Merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA.
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Dieser Beitrag beinhaltet lediglich allgemeine Informationen zum jeweiligen Gesundheitsthema und dient damit nicht der Selbstdiagnose, -behandlung oder -medikation. Er ersetzt keinesfalls den Arztbesuch. Individuelle Fragen zu Krankheitsbildern dürfen von unseren Redakteurinnen und Redakteuren leider nicht beantwortet werden.